Allein mit dem Dachzelt über den Balkan bis in die Türkei - Reisetagebuch
18 Tage, 11 Länder, 6328 Kilometer. Mein ungeplanter Roadtrip quer über den Balkan bis in die Türkei wurde zu einer Reise voller Kontraste – von den Spuren des Krieges in Sarajevo und Mostar über die abgelegenen Berge Bosniens bis hin zum lebendigen Chaos Istanbuls. Zwischen Euphorie und Überforderung, Begegnungen mit Fremden und Momenten der Stille habe ich viel über Geschichte, Kultur – und auch über mich selbst gelernt. Dieses Reisetagebuch erzählt von all diesen Erfahrungen.
Eine unvollständige Liste über die besuchten Orte findet ihr hier.
1. Sarajevo – erste Erinnerungen an eine Stadt voller Geschichte
Meine kürzliche Reise auf den Balkan war sehr ungeplant. Ich hatte nur ein paar grobe Punkte auf der Karte markiert, ohne Erwartungen, aber mit dem Wunsch, einen Teil Europas zu erleben, in dem ich noch nie gewesen war. Der erste dieser Punkte war Sarajevo, die Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina. Aber warum Sarajevo?
Ich habe ein paar prägende Erinnerungen aus meiner Jugend, die mit dieser Stadt verbunden sind. Zuerst war da die Band Franz Ferdinand. Als ich diese Band entdeckte, fragte ich mich, warum sich eine Britpop-Band aus Schottland nach einem österreichischen Thronfolger benennen würde. Wie ich damals erfuhr, wurde er in Sarajevo ermordet, was den Ersten Weltkrieg auslöste. Das war auch das erste Mal, dass ich von dieser Stadt hörte, die weit im Osten eines gefallenen Imperiums lag.
Einige Zeit später fand ich eine Dokumentation auf YouTube. Es war ein brutaler Augenzeugenbericht über die Jugoslawienkriege. Auch hier spielte Sarajevo eine zentrale Rolle, da die Stadt lange belagert war. Es gab so viel über einen Konflikt zu lernen, der so viele Menschen in Deutschland und Europa direkt und indirekt betraf – aber in der Schule erfuhren wir praktisch nichts darüber.
Auch wenn keine dieser Dinge positive Assoziationen mit dieser Stadt sind, musste ich sie einfach besuchen, als ich in der Gegend war. Was ich erlebte, war eine Stadt, die teils an Imperialismus erinnert, der von Arroganz verzehrt wurde. Aber auch an modernere Zeiten, mit typischen Ostblock-Bauten im brutalistischen Stil. Diese und andere Epochen kann man in Sarajevo bis heute erleben, wenn man ein paar Kilometer durch die Stadt läuft – fast wie in einem Themenpark. Und überall sieht man die Spuren der Belagerung, die daran erinnern, wie fragil Frieden ist.
Trotzdem ist die Stadt heute schön, und ich kann jedem, der sich für Geschichte interessiert, einen Besuch empfehlen. Ich werde die Augenzeugenberichte meines Guides Hasan und anderer Menschen, mit denen ich sprach, nie vergessen. Und wir sollten einen Konflikt, aus dem wir so viel hätten lernen können, nie vergessen.
2. Lukomir – das höchste Dorf Bosniens und seine Hütehunde
Während ich in Sarajevo war, hörte ich von dem Dorf Lukomir. Es ist das höchstgelegene bewohnte Dorf in Bosnien und Herzegowina. Schon die Anreise war ein kleines Abenteuer. Im ländlichen Bosnien sind asphaltierte Straßen nicht mehr selbstverständlich. Die Straße wurde immer anspruchsvoller, und ich dachte mir: „Verdammt, ich hätte die Allrad-Version des Dusters nehmen sollen.“ Nur um kurze Zeit später von einem 20 Jahre alten Polo überholt zu werden, der mit doppelter Geschwindigkeit vorbeizog. Allradantrieb ist am Ende auch nur ein weiterer Betrug des Kapitalismus.
Unterwegs begegneten mir nur verschiedene Tierherden, bis plötzlich die ersten Häuser auftauchten. Lukomir, auf 1.455 Metern über dem Meeresspiegel gelegen, ist eine Ansammlung rudimentärer Häuser. Ein Einheimischer wies mir schnell den Weg zum Campingplatz, wo ich eine Pause einlegte, bevor ich das Dorf erkundete. Plötzlich wurde ich von einem ohrenbetäubenden Lärm aus meinem Mittagsschlaf geweckt. Der Lärm kam von einer großen Gruppe Quadfahrer. Vorher war ich praktisch der einzige Gast im Dorf gewesen, nun war es voller Tagestouristen. Nach einem traditionellen Kartoffelkuchen waren alle Tagestouristen auch schon wieder verschwunden.
In bester Sonnenuntergangsstimmung machte ich mich auf den Weg zum Aussichtspunkt am Ende des Dorfes. Erst dort wurde mir klar, was für ein magischer Ort Lukomir ist. Es liegt am Ende eines langen Tales, das in eine Spalte mündet, die wahrscheinlich 1.000 Meter tief ist. Lukomir liegt direkt an dieser Kante, die das Dorf von allen anderen Richtungen abschneidet. Umgeben von den schönsten Bergen Bosniens.
Während ich dort auf den Sternenhimmel wartete, kehrten die Herden aus den Bergen ins Dorf zurück. Allerdings kamen mit ihnen auch die Hütehunde. Inzwischen war ich der einzige Gast, der noch draußen war, und leider nahmen die Hunde ihre Aufgabe sehr ernst. Jeder direkte Weg zurück war von Hunden blockiert. Zweimal stürmten sie sogar bellend auf mich zu. Übertrieben gestresst spielte ich ein kleines Versteckspiel in den engen Gassen, um die Hunde irgendwie vom Weg wegzulocken. Es funktionierte tatsächlich, und erleichtert kam ich im Gasthaus an, wo ich andere Reisende traf, die mir gute Ideen für die nächsten Tage gaben.
3. Mostar – zwischen Touristenmassen und dunkler Vergangenheit
Während ich in Lukomir war, schlugen mir zwei Radfahrer vor, Mostar zu besuchen. Die Stadt liegt im Süden Bosniens und ist vor allem für ihre Altstadt bekannt. Bei meiner Ankunft stellte ich fest, dass es dort viel touristischer war als an meinen anderen Stopps in Bosnien. Doch da ich mich schon viel zu lange mit den Details des Krieges beschäftigt hatte, auch über die Berichte der Einheimischen hinaus, wurde mein Besuch in Mostar von einem Gefühl der Schwere überschattet. Die Menschenmassen an der Stari Most überwältigten mich, und ich verließ den Ort relativ schnell. Da ich ohnehin schon in düsterer Stimmung war, beschloss ich, ins Genozid-Museum zu gehen. Dort werden die Ereignisse des bosnischen Genozids von 1992 bis 1995 sehr schonungslos und detailliert dargestellt.
Briefe, Folterinstrumente, Interviews mit Zeugen, Modelle von Konzentrationslagern. Ein Blick in die tiefsten Abgründe der Menschheit. Vom Museum aus ging ich in eine ruhigere Seitenstraße und stand plötzlich auf einem Friedhof. Dort holten mich die Erlebnisse der letzten Tage ein. Jedes Grab stammte aus dem Jahr 1993. Egal wie alt, egal ob Kämpfer oder Zivilist – 1993 wartete in Mostar der Tod auf dich, wenn du Muslim warst. Während die letzten Tage wie eine „dunkle Geschichtsstunde“ durchgingen, wurde hier auf dem Friedhof alles viel zu real, um noch irgendetwas genießen zu können. Also wollte ich Bosnien noch in derselben Nacht verlassen, aber der Schmerz blieb bis heute.
Es fällt mir nicht leicht, so etwas zu schreiben, und ich möchte den Fokus hier nicht auf mich legen, denn was weiß ich schon vom Leid der Menschen damals? Aber Orte wie Mostar oder Sarajevo zu besuchen, macht die Ereignisse viel realer als jede Dokumentation. Stoppt ethnisch motivierten Hass, wo er beginnt – und nicht erst dann, wenn es zu spät ist, wie in Mostar oder all den anderen Orten dieser Welt.
4. Republika Srpska & Montenegro – zerrissene Gegensätze
Nachdem ich Mostar verlassen hatte, verfolgte ich meine Lieblingsbeschäftigung: ein fernes Ziel in Google Maps eingeben und einfach sehen, was unterwegs passiert. So kam ich schnell in die serbische Entität Bosniens, die Republika Srpska. Die Stimmung war nach meinen Erlebnissen der letzten Tage etwas bedrückend. Außerdem war es sehr leicht zu erkennen, wie Bosnien und Herzegowina zwischen den Weltmächten zerrissen ist. Im bosnischen Teil sah ich ein riesiges Autobahnprojekt, finanziert von der EU. Hier im serbischen Teil fand ich ein Staudammprojekt, finanziert und gebaut von China. Sogar eine kleine Stadt aus Wohncontainern für die chinesischen Arbeiter war dabei.
Danach war es Zeit, die Grenze nach Montenegro zu überqueren. Unter den wachsamen Augen eines süßen Straßenhundes und der EUFOR-Friedenstruppen betrat ich das fünfte Land dieser Reise. Montenegro war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte: hügelige Graslandschaften und zerklüftete Klippen, alles in braune Töne getaucht. Die Abendstimmung wurde verstärkt durch Rauch von umliegenden Feuern. Auch die Gebäude zeigten schnell, dass sich der kulturelle Hintergrund geändert hatte: orthodoxe Kirchen am Horizont und Denkmäler, die an die sozialistische Vergangenheit Montenegros erinnerten. Neue Projekte wie die Prinzessin-Xenia-Autobahn A1, praktisch die einzige Autobahn in Montenegro, repräsentieren das neue, unabhängige Montenegro.
Es wurde dunkler, also nutzte ich die Übernachtungsmöglichkeit in einem Restaurant mit angeschlossenem „Campingplatz“.
5. Kosovo – Spontane Einladungen und probleme an der Grenze
Nach einem Frühstück mit einer streunenden Katze fuhr ich weiter Richtung Kosovo. Die Besonderheit dieses Landes zeigte sich schon bei der Einreise. Ich musste eine erweiterte Versicherung für mein Auto abschließen, doch niemand fragte je nach dem Geld. Am Ende ist der ganze Papierkram nicht so wichtig, wie es scheint. Für den Tag hatte ich keine Pläne, bis mir ein alter Freund, den ich zehn Jahre nicht gesehen hatte, auf Instagram schrieb. Er hatte gesehen, dass ich im Kosovo war, und lud mich spontan zum Abendessen ein. Auch sehr typisch für die Menschen aus dem Kosovo.
Bis dahin wollte ich jedoch etwas vom Kosovo erleben und fuhr fast durch das ganze Land bis zur Hauptstadt Pristina. Unterwegs hielt ich kurz zum Einkaufen und Tanken. An beiden Stopps waren die Leute sehr überrascht, dass ich kein Kosovo-Albaner war, sondern ein „originaler Deutscher“. Ein Begriff, mit dem ich mich nicht unbedingt wohlfühle, der aber freundlich gemeint war. Und nicht nur das – alle erzählten mir mit leuchtenden Augen Geschichten über ihre eigenen Verbindungen zu Deutschland, da beide Länder eng miteinander verbunden sind.
Für mich wirkte der Kosovo, mangels einer besseren Beschreibung, wie das Indien Europas. Ein sehr geschäftiger und teils wilder Ort. Fast nirgends sonst in Europa war mir der Unterschied zwischen Arm und Reich so offensichtlich, und Regeln werden etwas lockerer ausgelegt. Aber überall spürt man den Antrieb für eine bessere Zukunft einzustehen, für das Land und die Identität, für deren Unabhängigkeit man lange kämpfen musste. Viele Denkmäler für die Opfer des Krieges und die Kämpfer der UÇK, die eine große Rolle für die Unabhängigkeit des jungen Landes spielten, erinnern noch immer an diesen Kampf nie wirklich endete.
Nach einem schönen Abend in Gjilan wollte ich noch ein paar Stunden fahren und den Kosovo wieder verlassen. Doch dazu kam es nicht, weil ich an der Grenze zu Nordmazedonien wegen fehlender Versicherung abgewiesen wurde. Der nächste Grenzübergang mit Versicherungsbüro war über drei Stunden entfernt, also stand ich nachts etwas verloren im Kosovo. Zu müde, um weiterzufahren, fand ich einen Stellplatz, der auf den ersten Blick sehr unheimlich wirkte. Es gab keine wirkliche Auswahl, also blieb ich – nur um am nächsten Morgen festzustellen, dass es einer der schönsten Orte meiner Reise werden würde.
6. Nordmazedonien – alte Symbole und verlassene Orte
Nach einer Nacht im Kosovo unternahm ich einen neuen Versuch an der Grenze zu Nordmazedonien. Diesmal an einem besser ausgestatteten Übergang und nach einigem Hin und Her konnte ich zusätzliche Versicherung für mein Auto abschließen. Für Mazedonien hatte ich keine Pläne. Es war unglaublich heiß und trocken, also war ich froh, den größten Teil des Tages im Auto zu verbringen.
Ich hielt in der alten Bergbaustadt Makedonska Kamenica, um Vorräte aufzufüllen. Hier war die Stimmung des alten Jugoslawien sehr präsent. Denkmäler und Symbole erinnerten an Mazedoniens sozialistische Zeit, aber auch ein Gefühl der Abgehängtheit vom restlichen Europa.
Die meisten Orte waren sehr vernachlässigt, auch das alte Kloster, zu dem ich mich bei einem späteren Stopp durch hüfthohes Gras kämpfte. So konnte ich Nordmazedonien noch nicht wirklich greifen, machte mir aber auch keine Mühe, die schönste Seite des Landes zu finden, da ich am Abend schon ins nächste Land, Bulgarien, einreisen wollte.
7. Bulgarien – zurück in der EU und Begegnungen in Bansko
Am Nachmittag erreichte ich bereits das nächste Land, Bulgarien, und war damit zurück in der EU. Auch hier stellte sich die üblichen Fragen: Was ist die Währung? Brauche ich eine Vignette? Versicherung? Diesmal war es recht unkompliziert, und als ich vom Vignetten-Verkaufspunkt zurückkam, stand ein Fremder an meinem Auto. Er fragte, wohin ich wollte und ob ich ihn ins Tal mitnehmen könnte. Ich versuche in solchen Situationen möglichst unzynisch zu bleiben und nicht sofort zu denken, dass es eigentlich um die teure Kameraausrüstung im Auto geht. Also sagte ich ja, und wir hatten eine angenehme Unterhaltung über unsere Leben, während wir ins nächste Städtchen fuhren. Danach reiste ich alleine weiter nach Bansko, wo ich die nächsten Tage verbringen wollte. Dort traf ich einen Freund aus Spanien, der schon seit einigen Wochen dort war.
Bansko ist in erster Linie ein Hotspot für den Wintertourismus, da es von den höchsten Bergen Bulgariens umgeben ist. Im Sommer ist es jedoch auch ein Treffpunkt für die Digital-Nomaden-Community. Menschen zu treffen, die von Selbstbestimmung, Freiheit und eigenen Träumen getrieben sind, war sehr erfrischend. Niemand ist dort ein Außenseiter, weil jeder ein Außenseiter ist. Diese paar Tage beantworteten mir nicht meine eigenen Fragen, aber sie gaben mir zumindest neue Ideen für meine Zukunft.
8. Rila-Gebirge – Lektionen aus einer gescheiterten Wanderung
Nach ein paar Tagen in Bansko hatte ich eine Wanderung im Rila-Nationalpark geplant. Die Route hatte ich mir selbst ausgesucht und sie sollte mich über 100 km bis zum höchsten Berg Bulgariens führen. Eigentlich freute ich mich sehr auf ein paar ruhige Tage in den Bergen und darauf, ein weiteres YouTube-Video zu drehen. Doch ich merkte gleich am Anfang, dass mein Herz nicht dabei war. Ich startete die Wanderung in einem abgelegenen Dorf. Die Umgebung war schön, aber ich konnte es nicht genießen. Mir ging es nicht gut, Mücken verfolgten mich, es war heiß und der Weg war nur eine breite Forststraße. Ich merkte, wie meine Stimmung ins Negative abrutschte.
Dann kam ich an eine sehr überwucherte Stelle des Weges, die fast unpassierbar war. Am Rande eines Nervenzusammenbruchs kehrte ich zur letzten Kreuzung zurück. Dort machte ich Pause, um meine Gedanken zu sammeln. Ich war wütend auf mich, so eine schlechte Route geplant zu haben, obwohl ich es besser hätte wissen müssen. Ich wollte umkehren und nach Bansko zurück, statt schlecht gelaunt allein im Wald zu sitzen. Aber ich wusste, dass der Tag ohnehin verdorben wäre und dass Aufgeben beim ersten Widerstand sich wie eine Niederlage anfühlen würde, was sonst nicht meine Art ist. Also beschloss ich, wenigstens eine Nacht in der Wildnis zu verbringen, da ich ja schon dort war. Mental auf eine Durchschlageübung eingestellt, folgte ich meiner ursprünglichen Route – oder das dachte ich zumindest. Überraschend war dort plötzlich nichts mehr überwuchert. Ich bin kein spiritueller Mensch, aber in diesem Moment musste ich kurz innehalten. Mit negativer Einstellung hatte ich den falschen Weg gewählt, mit positiver den richtigen – ohne überhaupt zu bemerken, dass es zwei Wege gab.
Von da an war die Wanderung wie ein Märchen, mit Sonnenuntergangsstimmung, Flussüberquerungen und wilden Pferden. Als es dunkel wurde, baute ich mein Zelt auf, zufrieden, dass ich durchgehalten hatte. Am nächsten Morgen stieg ich zu den 7 Seen auf, begleitet den ganzen Vormittag von einem Hund. Dort beschloss ich, die Wanderung zu beenden. Diesmal aber aus positiver Motivation. Ich wollte nicht weiter einem Plan folgen, der mich nicht glücklich machte, nur weil ich ihn mir vorgenommen hatte. So war die Wanderung keine Niederlage, sondern eine Lektion in Flexibilität und wie eine positive Einstellung den Ausgang einer Situation verändern kann.
9. Bansko – Entschleunigung
Durch das Verkürzen der Wanderung hatte ich etwas mehr Zeit in Bansko gewonnen. Da die Reise insgesamt sehr straff geplant war und ich schon kurz vor einer Reizüberflutung stand, ließ ich es in diesen Tagen ruhiger angehen. Morgens joggen, entspannt frühstücken, ein gemütlicher Ausflug in die Berge, Eisbad im Fluss, in eine verlassene Baustelle einbrechen, um den Sonnenuntergang zu sehen, und danach Entspannung im Spa. Dieser Tag fühlte sich an wie der letzte Tag der Sommerferien – und war genau die Entschleunigung, die ich brauchte. Danke für alles Vicente.
10. Türkei – die Grenze zwischen Europa und Orient
Gut ausgeruht machte ich mich auf den Weg zum letzten Ziel meiner Reise: die Türkei. Auch ein Land, das ich hauptsächlich durch Menschen kenne, die dort ihre Wurzeln haben. Abgesehen vom Essen zog mich vor allem der kulturelle Aspekt an: Die Türkei war schon immer die Brücke zwischen Europa und der islamischen Welt – etwas, das mich zunehmend fasziniert.
Als ich gegen 17 Uhr an der Grenze ankam, waren es fast 40 Grad. Der Beamte bei der Passkontrolle war sehr erstaunt, dass ich als „originaler Alman“ ganz allein mit dem Auto in die Türkei gefahren war, und gab mir noch ein paar Minuten lang Reisetipps, während die Schlange hinter mir immer länger wurde.
Dann ging es weiter zum Zoll und zum leidigen Thema Autoversicherung. Mein Wagen wurde mehrmals durchsucht, danach musste ich ins Versicherungsbüro. Nachdem ich mich durch die Menge gekämpft hatte, erfuhr ich, dass ich nur bar bezahlen konnte. Zum Glück gab es gleich nebenan einen Geldautomaten. Der Wechselkurs der Lira war in den letzten Jahren nicht besonders günstig, und bis heute ist der größte Geldschein 200 Lira – nicht einmal 5 Euro wert. Trotzdem liegt das Preisniveau teilweise fast auf dem der Eurozone. Also hob ich die größtmögliche Summe ab – so viel, dass es gar nicht in mein Portemonnaie passte. Gut, dass ich den Großteil sofort im Versicherungsbüro loswurde, sogar deutlich mehr, als eigentlich auf der Rechnung stand. Aber tausende Kilometer von zu Hause entfernt, ohne Sprachkenntnisse, wollte ich keinen Grenzbeamten beschuldigen.
Danach sollte ich mein Auto noch in eine Art Werkstatt fahren, und ich war sicher, dass es hier Probleme mit meinem Dachzelt geben würde. Doch auch hier gab es nur den obligatorischen Blick in den Kofferraum. Und dann war ich tatsächlich in der Türkei. Voller Euphorie fuhr ich in ein kleines Dorf, in dem ich an diesem Abend wohl der einzige Tourist war. Kaum ausgestiegen, traten mehrere Restaurantbesitzer auf die Straße und warben um meine Aufmerksamkeit. Nach einem fantastischen Teller Köfte suchte ich mir einen Schlafplatz an einem einsamen See.
Am nächsten Morgen schwamm ich im Schwarzen Meer und erkundete ein kleines Küstendorf, bevor ich mich auf den Weg zu meinem eigentlichen Ziel machte: Istanbul. Meine ersten 24 Stunden in der Türkei machten auf jeden Fall Lust auf mehr.
11. Istanbul – Chaos, Kultur und die Fahrt meines Lebens
Am Abend kam ich in Istanbul an. Klugerweise hatte ich ein Hostel mitten in der Altstadt gebucht. Und wofür sind Altstädte bekannt? Genau – dafür, mit dem Auto gut erreichbar zu sein. Die Fahrt dorthin war wohl die stressigste meines Lebens. Die Routenführung, die vielen Spuren und die Auslegung der Verkehrsregeln machten es schwer, gleichzeitig den Verkehr und das Navi im Blick zu behalten. Das größte Problem verursachte ich aber selbst, indem ich Google Maps blind vertraute. Google weiß eben nicht überall, welche Straßen Einbahnstraßen sind und welche nicht.
So bog ich für eine kleine Abkürzung in eine Einbahnstraße ein. In Istanbul gibt es aber Nagelbänder, die alle Reifen zerstören, wenn man in die falsche Richtung fährt. Das bemerkte ich erst, als ich schon drübergefahren war – zum Glück in die richtige Richtung. Ab hier gab es kein Zurück mehr. Die enge Gasse wurde immer enger. Autos auf beiden Seiten, die Fahrbahn gerade so breit wie ein Dacia Duster, und aus allen Richtungen drängten Motorroller. Nach einer Kurve kam dann auch noch ein unnötig steiler Anstieg. Meine Reifen drehten durch, doch wie durch ein Wunder schaffte ich es nach oben – mit intakten Reifen und ohne jemanden zu rammen.
Trotzdem war die Fahrt noch nicht vorbei. Der geplante Parkplatz war unzugänglich, also war ich umsonst ins Zentrum gefahren. Die Alternativparkplätze konnte ich wegen der Höhenbeschränkung nicht nutzen, sodass ich fast schon bis zum Flughafen fahren wollte. Schließlich kam ich aber an einem passenden Parkplatz vorbei. Von dort lief ich die 4 km zum Hostel, da mir die Geduld für den Nahverkehr fehlte.
Nachdem ich mein Gepäck abgestellt hatte, ging ich direkt wieder los. Mich faszinierten die belebten Hauptstraßen und die einsamen Gassen. Eine Stadt voller Geschichte und Kultur. Aus den Minaretten sangen die Muezzins, der Duft türkischer Küche lag in der Luft, Möwen und Fischer teilten sich den Fisch aus dem Bosporus. All das erlebte ich so intensiv, dass ich mich einfach in dieser Stadt verlieren wollte. Ein Ort, von dem ich immer geträumt hatte.
12. Istanbul – Basar und verloren in der Großstadt
Am nächsten Morgen frühstückte ich gemütlich im Hostel, da ich ohnehin Schlaf nachholen musste. Zuerst wollte ich zum Großen Basar. Ich wollte nichts kaufen, aber wenigstens erleben, was dort los war. Und tatsächlich war das Erlebnis eher ernüchternd. Es war viel weniger hektisch, weniger voll, und ich wurde von deutlich weniger Verkäufern angesprochen, als ich erwartet hatte. Also schlenderte ich herum; die Architektur des ganzen Areals war interessant, und man konnte sich zumindest vorstellen, wie es hier früher gewesen sein musste. Für einen Moment dachte ich tatsächlich darüber nach, einen Teppich zu kaufen, aber r/rugs redete es mir schnell aus.
Also zog ich weiter, wobei ich mich nicht mehr erinnern kann, wohin. Langsam fühlte ich mich überfordert. Eine so große Stadt mit so vielen Möglichkeiten, und doch wusste ich nichts damit anzufangen. Ich fühlte mich wieder losgelöst, als würde ich die Welt nur durch ein Schaufenster betrachten. Nach stundenlangem Umherlaufen hatte ich schon Blasen an den Füßen, und nach einer langen Pause am Bosporus wurde mir klar, dass ich immer noch kein öffentliches Verkehrsmittel genutzt hatte. Die anschließende Bootsfahrt auf die asiatische Seite hob meine Stimmung wieder. Vielleicht kamen die Endorphine auch daher, dass ich jede erdenklichen Snack kaufte, an dem ich vorbei kam. Am Abend ging ich zurück Richtung Hostel und verbrachte den Sonnenuntergang im Gülhane-Park. Die Schönheit dieser Stadt ist schlicht unbeschreiblich. Doch an diesem Tag spürte ich auch wieder die Schattenseiten des Alleinreisens.
13. Istanbul – Moscheen, Shisha und Bill Clintons Fahrer
Am nächsten Tag buchte ich eine geführte Tour durch die Blaue Moschee, die Hagia Sophia und die Zisterne. Alle drei Bauwerke hinterließen einen bleibenden Eindruck, ebenso wie die Geschichten unseres Guides. Die Detailfülle, die in diese riesigen Gebäude eingeflossen ist, und die Geschwindigkeit, mit der sie errichtet wurden, ist einfach unglaublich. Ich denke, alles ist möglich, wenn Menschenrechte keine große Rolle spielen. Viel mehr lässt sich dazu kaum sagen – man muss es selbst erleben, wenn man dort ist.
Nach der Tour hatte ich bis zum Abend keine großen Pläne. Ich wollte beim gemeinsamen Abendessen im Hostel dabei sein. Ganz bewusst hatte ich ein sehr soziales Hostel gewählt – weit außerhalb meiner Komfortzone. Zu oft hatte ich mich verschlossen, meine soziale Angst war zu groß. Diesmal wollte ich das ändern, Menschen aus eigenem Antrieb kennenlernen und weniger auf mich fixiert sein. Während die anderen Abende im Hostel stets voller Austausch und Leben waren, fiel ausgerechnet an dem Abend, an dem ich aus meiner Komfortzone treten wollte, das Dinner aus, weil sich nicht genug Leute angemeldet hatten. So war ich wieder allein – in einer Stadt mit 15 Millionen Menschen.
Also streifte ich erneut umher. Alles in Laufnähe hatte ich schon gesehen, und die Dinge, die mich zwei Tage zuvor noch euphorisch erfüllt hatten, ließen mich nun kalt. Zur Aufmunterung kaufte ich mir das absurdeste Stück Käsekuchen. Danach beschloss ich, in eine Shisha-Bar zu gehen, da ich das in Istanbul immer schon einmal ausprobieren wollte. Die Bar lag in einer relativ belebten Seitenstraße.
Die Atmosphäre war sehr freundlich, und kurz nach meiner Ankunft setzte sich ein älterer Herr neben mich. Er weckte meine Neugier, weil er nicht nur Türkisch sprach, sondern auch Amerikanisches Englisch und Arabisch. Außerdem wirkte er wie ein Stammgast. Der Orangensaft, den er bestellte, sah so köstlich aus, dass ich ebenfalls einen nahm. So kamen wir ins Gespräch. Er lebt in New York und wurde in Syrien geboren. Schon nach kurzer Zeit war ich in einem Videocall mit seiner Frau, und er lud mich ein, ihn in Syrien zu besuchen „falls ich mal in der Gegend sei“. Außerdem erzählte er mir, dass er in New York als Limousinenfahrer gearbeitet hatte, bevor er in Rente ging – und regelmäßig Leute wie Bill Clinton fuhr. Das konnte er mit alten Fotos belegen. So saß ich da, 2500 km von zu Hause entfernt, und rauchte Shisha mit Bill Clintons Fahrer. Dank dieser Begegnung fühlte sich der Aufenthalt in Istanbul nicht mehr wie eine Niederlage an – und wird mir wohl für immer in Erinnerung bleiben.
14. Rückkehr – 6328 Kilometer
Am nächsten Morgen stand die lange Rückfahrt bevor. Nach einem kräftigen Frühstück ging ich zu meinem Auto. Google Maps zeigte als Fahrzeit nur „1T“ an, und ich freute mich tatsächlich darauf. So hatte ich genug Zeit, das Erlebte zu reflektieren. Die Route führte mich von der Türkei über Bulgarien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich zurück nach Deutschland. In 18 Tagen war ich also in 11 verschiedenen Ländern und hatte 6328 km zurückgelegt. Zahlen, die eigentlich nichts bedeuten. Viel wichtiger ist, was ich erlebt habe und wie sich mein Ausblick aufs Leben in dieser Zeit verändert hat. Auf dieser Reise gab es extreme Höhen und extreme Tiefen – wie im Leben selbst. Ich verließ Istanbul mit einem neuen Verständnis für mich selbst und der tiefen Überzeugung, meine Einstellung zu mir und zum Leben grundlegend zu ändern.
Warum teile ich all das öffentlich? Es ist kein Schrei nach Aufmerksamkeit oder Mitleid – mir geht es gut, keine Sorge. Ja, vielleicht ist all diese Sentimentalität kitschig und nicht besser als Kalendersprüche. Aber schöne Bilder sind nur schön, wertvoll werden sie erst durch die Geschichten dahinter. Jeder teilt schöne Fotos im Internet, doch oft stehen dahinter Menschen mit ihren eigenen Problemen. Das vergessen wir im Alltag leicht – und sollten einander mehr Empathie entgegenbringen und weniger in Schwarz-Weiß denken. Ehrlich zu sich selbst zu sein, ist vielleicht das Beängstigendste, was man tun kann – aber es lohnt sich.
Das Leben ist das Schönste, was mir je passiert ist.